Viktoria fasst sich an den Bauch und stöhnt auf. „Mama, mir ist so schlecht!“ Keine halbe Minute später übergibt sie sich auf Sofa, Bettdecke und Parkett. Leider war ich mit dem Reichen der Schüssel aus der Küche nicht schnell genug und so muss ich die Bescherung nun aufwischen und die Waschmaschine anschalten. Schon den dritten Tag klagt mein zehnjähriges Kind über Bauchschmerzen und Durchfall. „Jetzt ist es endlich raus“, tröste ich Viktoria und glaube selbst daran, dass es nun endlich bergauf gehen wird.
Das wäre mir sehr recht, denn eigentlich bin ich selbst gerade ziemlich erschöpft. Es war alles etwas viel in letzter Zeit. Annette, meine Ärztin, Freundin und Lehrerin aus der Schule der Heilkunst, habe ich längst um Rat und Hilfe gebeten. Nach eingehender Untersuchung bekommt Viktoria nun nicht nur Fernheilung von Annette, sondern auch verschiedene Mittel und Medikamente, die helfen sollen, das körperliche Leid zu überwinden und das System zu stabilisieren.
Die Krankheit ist willkommen als Flucht vor der Welt
Mit dem Erfolg, dass sich immer noch nichts tut. Auch am vierten Tag ihrer Erkrankung kann und will Viktoria weder aufstehen noch irgendetwas essen. Trotz anhaltender Beschwerden, sieht die kleine Maus aber ganz zufrieden aus auf ihrem Sofa-Lager mit Kopfkissen, Decke, Cola, Fernseh-Unterhaltung und Mutternähe auf Abruf. Immerhin hat sie nun einen Grund, nicht in die Welt hinaus zu müssen, dorthin, wo sie letztens schwer einstecken musste. Ich fürchte, hier liegt der Hase begraben.
Verzweiflung und Wut als Auslöser
Nur wenige Tage vor ihrem Infekt hatte sie einen Konflikt mit einem Familienmitglied. In einer Situation, in der sie Mut und Aufrichtigkeit bewies, schlug ihr die Wut ihres erwachsenen Gegenübers entgegen. Da niemand aus dem Familienkreis – obwohl zuvor fest versprochen – sich ihr in diesem Moment zur Seite stellte, fühlte sie sich nicht nur ungerecht behandelt, sondern völlig in der Welt verloren, verzweifelt und allein. Immer wieder haben wir mit Viktoria über dieses Ereignis gesprochen, ihr erklärt, dass Menschen aufgrund eigener Verletzungen manchmal nicht in der Lage sind, sich liebevoller zu verhalten. Dass es nicht persönlich gemeint ist, nicht gegen sie gerichtet. Dennoch plagen sie seitdem immer wieder Albträume und Ängste, vor allem, wenn es darum geht, das Haus zu verlassen und eigene Wege zurückzulegen, so etwa zur Schule.
Ich mag nicht mehr
Auch mich hat dieses Ereignis sehr beschäftigt. Ich habe meine Wut bearbeiten müssen, meinen Schmerz über diese gefühlte Ungerechtigkeit und meine Trauer, dass es überhaupt so weit gekommen ist in der Familie. Jetzt aber bin ich müde, erschöpft und habe keine Lust mehr, tief in mir zu schauen, was ich noch erlösen kann, um dadurch auch meiner Tochter wieder in die Kraft zu verhelfen. Schließlich sind wir Mutter und Kind, und ich habe unter Annettes Begleitung schon so oft erleben dürfen, wie Krankheit und Leid der Kinder sich auflösen, wenn ich selbst meine eigenen Themen bearbeite, vergrabene Gefühle ausdrücke. Viele spontane Heilungen sind dadurch möglich geworden. Manchmal erschienen sie mir geradezu wie ein Wunder. Jetzt aber mag ich nicht mehr! Ich habe in den letzten Tagen und Wochen wahrlich genug erlöst. Ich will nur noch meine Ruhe!! Und genau das schreibe ich auch an Annette.
Mein Loslassen mobilisiert die Lebensgeister
„Ja, gib einfach auf und lasse Dich fallen“, kommt postwendend ihre Antwort. „Übergib alles an den Kosmos“. Mit allem habe ich gerechnet, nicht aber mit dieser entspannenden Antwort. Schon beim ersten Überfliegen laufen mir die Tränen. Mein Bedürfnis loszulassen und gar nichts mehr tun zu müssen in der Welt, ist so groß, dass ich sofort damit anfange und mich in meine Kissen sinken lasse. Nur kurz ausruhen, eine halbe Stunde dösen und an nichts mehr denken.
Doch, was ist das? Kaum habe ich die Augen zu, schallt dumpfes Gepolter aus dem Obergeschoss, wütende Schreie sind auch zu hören. Es muss Viktoria sein, die völlig außer sich in ihrem Zimmer tobt, lautstarke Beschimpfungen loslässt, die ich so aus ihrem Mund noch nicht gehört habe. Während ich also vollkommen loslasse und aufgebe, scheint sie dagegen in die Lebenskraft zu kommen – und wie! Prima, denke ich, jetzt geht es aufwärts! Sicher ist das Kind morgen wieder gesund!
Es beginnt von vorn
„Mama, mir ist so schlecht!“ Am nächsten Vormittag bin ich schneller und schaffe es, die Schüssel rechtzeitig unter Viktorias Mund zu halten. Nichts hat sie gegessen und doch muss sie sich übergeben. So langsam verliere ich den Mut, immerhin ist es schon der fünfte Tag, an dem sie sich mit Übelkeit und Bauchschmerzen quält. Annette, der ich frustriert von der Lage berichte, will nun keine Kompromisse mehr eingehen. „Azetonämisches Erbrechen“, nenne man das, ich solle Viktoria in die Klinik bringen, damit sie dort mit Infusionen stabilisiert werden könne. „Zu Hause bekommt ihr das jetzt so nicht mehr hin“, verleiht sie ihrer Empfehlung Nachdruck.
Oh nein, nicht auch noch das! Für uns ist es ein riesiger Aufwand, ein Kind in der Klinik zu betreuen und gleichzeitig drei Geschwister zu Hause zu versorgen. Ich handele deshalb noch einen Umweg über unseren Kinderarzt heraus, vielleicht kann er mit einer ambulanten Infusion helfen. Innerlich aber platze ich! Mir reicht es jetzt wirklich! Erst das Dilemma in der Familie und nun auch noch der ganze Aufwand um das kranke Kind.
Nun werde ich selbst wütend
Ich fühle mich selbst dermaßen von meinem Glück, Gott und der Welt verlassen, dass ich wütend durch die Küche stampfe, nachdem mein Mann Hari mit Viktoria das Haus verlassen hat. Ich schimpfe mit dem Kosmos, dass die Wände nur so wackeln. Ich finde es plötzlich selbst so ungerecht, wie meine Kleine behandelt wurde, dass sie nun so leiden und ich als ihre Mutter das ganze auch noch tragen muss, obwohl ich selbst schon so erschöpft war. „Schluss damit jetzt!“, brülle ich und werfe die Küchenschranktüre zu, dass die Tassen auf den Ablagen klirren. Von lähmender Müdigkeit keine Spur mehr!
Der Appetit auf das Leben kehrt wieder
Mein Ausbruch zeigt wohl Wirkung: Als Viktoria mit ihrem Papa wieder nach Hause kommt, hat sie Hunger auf Klöße mit Soße! Zum ersten Mal nach fünf Tagen ist wieder so etwas wie Lebensgeist in meinem Kind. Und das, obwohl der Kinderarzt keine Infusion verabreicht hat. Dort angekommen, ging es ihr plötzlich wieder so gut, dass der der Arzt uns wohl gedanklich eher in die Kategorie „überfürsorgliche Eltern“ einstufte.
Wie Innen, so Außen
Klöße mit Soße gab es natürlich noch nicht, aber ab diesem Moment ging es endlich aufwärts mit Viktoria. Die Wut war bei mir angekommen. Während mir all die Ungerechtigkeit, die Viktoria sprichwörtlich nicht verdauen konnte, hochkam, ging bei ihr der Magen wieder auf. Nicht zu glauben, wie alles mit allem verbunden ist, vor allem aber Mutter und Kind, Eltern und Kinder! Diese Worte, mit der ich die arme Schranktüre zugeschlagen und mich damit aus meinem Opferdasein befreit hatte, waren ein Befehl in den Kosmos. Meine Wut wurde zur Entschlossenheit, sich künftig nichts mehr bieten zu lassen. Genau das brauchte es wohl, um Viktorias Seele den richtigen Impuls zu geben, sich dem Leben wieder zu öffnen….
Warum denn nicht gleich so! Kinder in all ihren Facetten und Themen sind wirklich unsere besten Trainingspartner. Unerbittlich im Aufzeigen aller geistigen und körperlichen Verstimmungen. Sieht so aus, als würden mir mit vier Kindern die Trainingsstunden wohl so schnell nicht ausgehen…
Preema
Bild: Johanna Luft
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